Sind sie die Monster?
Foto: Suenaga Makoto / Monster Film Committee
22.07.2024, Autorin: Laura Marta
Der japanische Starregisseur Hirokazu Kore-eda hat es wieder geschafft! In seinem neusten Werk “Monster – die Unschuld”, das aus drei konträren Perspektiven erzählt wird und eine Laufzeit von etwas mehr als zwei Stunden hat, lässt er das Publikum nie zur Ruhe kommen. Sitzt man nun in einem Psychothriller oder in einem sozialkritischen Drama? Bis zum überraschenden Ende schwankt der Plot zwischen den beide Polen.
Die alleinerziehende Witwe Saori (Sakura Andō) weiss langsam nicht mehr, wo ihr der Kopf steht. Ihr sonst so lebensfroher junger Sohn, Minato (Soya Kurokawa), verhält sich immer merkwürdiger und scheint sich zurückzuziehen – noch mehr als er es seit dem Tod seines Vaters sowieso schon tut. Doch diesmal ist es anders: Er hat plötzlich nur noch einen Schuh an. Kommt mit einer unerklärlichen Wunde nach Hause. Dann eines Nachts gar nicht mehr. Als die verängstige Mutter ihn endlich in einem verlassenen Eisenbahntunnel findet, springt er auf dem Nachhauseweg aus dem fahrenden Auto. Später an dem Abend will Minato wissen, ob er ein Schweinehirn habe. Da platzt Saori der Kragen und der Fünftklässler muss mit der Sprache rausrücken: Sein Lehrer, Herr Hori (Eita Nagayama), habe ihm diesen Gedanken eingepflanzt und würde ihn schikanieren. Doch als sie diesen konfrontiert, weist er jegliche Schuld von sich. Auch die Schuldirektorin und der gesamte Lehrkörper verhalten sich merkwürdig. Sie schaffen es nicht, Saoria in die Augen zu schauen und greifen lieber auf die immer selben vorbereiteten Phrasen zurück, («Wir nehmen Ihre Bedenken ernst und werden unsere Anweisungen in Zukunft angemessen formulieren»), anstatt offen zu kommunizieren.
Woran das liegt, wird aus drei verschiedenen Perspektiven beleuchtet: der der Mutter, der des beschuldigten Lehrers und schlussendlich aus Minatos’. Das Publikum fragt sich ständig, wer nun ihr Vertrauen – und ihr Mitgefühl – verdient hat. Immer wieder müssen vorschnelle Urteile revidiert und hinterfragt werden. Kaum scheint das Puzzle gelöst zu sein, werden die Fakten neu geordnet, indem der Film wieder ansetzt und die Geschichte aus einem anderen Blickwinkel erzählt. Diese werden durch einen Fixpunkt getrennt: einer brennenden Hostessen-Bar in einem von Tokios vielen Hochhäusern. Vermutet wird Brandstiftung.
Im letzten Teil des Films wird herzerwärmend aber niemals kitschig die aufblühende Freundschaft zwischen dem Halbwaisen und Yori (Hinata Hiiragi) – einem Mitschüler, der von den anderen erbarmungslos für seine Verträumtheit, seine scheinbar “feminine Art” und seinem Alkoholkranken Vater drangsaliert wird – dargelegt. Schön zusammenfassen lässt sich diese Beziehung mit einem Zitat aus dem Film: «Wenn das Glück nicht für alle zu haben ist, dann ist es kein Glück.»
Zwischen Gruppenzwang, Anderssein und Sozialen Konventionen: Minato und Yori.
Foto: Suenaga Makoto / Monster Film Committee
Manchmal lügen wir nicht, um unsere Mitmenschen zu verletzen, sondern um uns selbst zu schützen – vor Ausgrenzung und Vorurteilen
«Monster – die Unschuld» erzählt raffiniert von der Geschichte einer Kinderfreundschaft und der Wichtigkeit verschiedener Perspektiven. Der Film ist zärtlich, präzise – aber vor allem zutiefst menschlich. Nicht ohne Grund hat dieses berührende Werk über (Wahl)Familien, Wahrheit und Gesellschaftliche Normen 2023 in Cannes die Goldene Palme für das beste Drehbuch erhalten. Keine Überraschung, immerhin gehört Kore-eda zu den meistprämierten Stammgästen des Filmfestivals an der Côte d’Azur.
Der japanische Originaltitel „Kaibutsu“ («Monster») spielt auf ein Kinderspiel an, bei dem man sich einen Zettel mit einem Namen, den die Mitspieler:innen erraten müssen, auf die Stirn klebt und fragt: «Wer ist das Monster?»– eine Frage, die im Film immer wieder auftaucht. Ist es der vermeintlich gewalttätige Lehrer? Sind es wohlmeinende, aber überfürsorgliche Eltern? Kinder, die sich den Klassenraum gegenseitig zur Hölle machen? Oder doch unsere Gesellschaft, die kein abweichen von der vermeintlichen Norm duldet?
Dieses tiefgreifende und zugleich zuversichtliche Sozialdrama überzeugt mit starken Bildern, der zarten Klaviermusik des erst kürzlich verstorbenen, Oscar-prämierten Komponisten Ryuichi Sakamoto und den hervorragenden schauspielerischen Leistungen aller Beteiligten. Hirokazu Kore-eda hat sich wieder selbst übertroffen. Dieser Streifen wird lange in Erinnerung bleiben.
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