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Das kleinere Übel

Als Richard Thompson Anfang der 2000er-Jahre, Professor für Meeresbiologie, ein Team von Doktoranden leitete, die Mikroplastik in der Meeresumwelt untersuchen wollten, konnte er sich kaum vorstellen, worauf sie stossen würden. Bei einer Untersuchung von sandigen Sedimenten erwartete er, zersetzte Kunststoffteile zu finden, die von jahrzehntealtem Treibgut oder Kunststoffperlen stammten, welche immer häufiger zu Reinigungsmitteln hinzugefügt wurden.

Pelz und Fasern

Zu Thompsons Überraschung brachten jedoch die Untersuchungen seines Teams, dass die Mehrheit der Plastikteilchen auf den Stränden Südwestenglands nicht aus Waschprodukten kam. Die faserigen Materialien, die sie fanden, wiesen darauf hin, dass sie eher von Kleidungen, Seilen oder bestimmten Arten von Verpackungen stammten. 

Zwanzig Erddrehungen um die Sonne später hat sich die Welt dramatisch verändert:  eine parallele Dimension namens Internet ist geboren, die Fridays for Future haben das Bewusstsein der Menschheit über die Klimaerwärmung erhöht und nachhaltig ist zum Adjektiv geworden, welches (glücklicherweise) immer häufiger zu finden ist.  Einer dieser Bereiche ist die Kleidungsindustrie, in der auch Mode-Riesen manche Produkte auf den Markt einführen, dessen USP (Unique Selling Proposition) genau ihre Nachhaltigkeit sein möchte.  Ob sich in der Zwischenzeit auch die Plastiklage verändert hat?  Laut der EU stammen heute zwischen schätzungsweise 15 % und 31 % der 9,5 Millionen Tonnen Kunststoff, die jedes Jahr in unsere Ozeane gelangen, aus der Kleidungsindustrie. Trotz einem erhöhten sowie überall festzustellend Wunsch nach Nachhaltigkeit bleibt also diese Plastikinvasion ungestört?  Um diese verwirrende Dynamik besser zu verstehen, brauchen wir kurz in die Modewelt hineinzutauchen. 

Unter den abertausenden Arten von Produkten, die in den Geschäften und auf den Webseiten zu finden sind, taucht eine Kategorie auf, die immer beliebter und erfolgreicher ist: Fleece, Fake fur, Pelzimitate; viele Namen, die ein und denselben aus Plastik gewonnenen Kunststoff bezeichnen.  Sein Erfolg ist der vielfältigen Anwendungen des Stoffes zu verdanken: er ist fluffig, hält sehr warm und lässt sich schnell und unkompliziert zu der gewünschten Konsistenz kneten. Hinzu kommt noch, dass durch die Nutzung von Plastik, sei als als Füllung, Dekoration oder gar als einziger Bestandteil, werden andere Materialien tierischer Herkunft nicht eingesetzt: Wolle, Leder oder Daunen, um manche davon zu nennen.  Somit lässt sich nicht nur alter Plastik recyceln und für die Herstellung von diversen Kleidungsstücken wiederverwenden, sondern auch Tiergrausamkeiten bei der Herstellung verhindern und das sogar zu einem mässigen Preis: Zwischen hundert und zwei hundert Franken. 

Diese Philosophie stösst heutzutage auf fruchtbaren Boden, denn noch nie war in der Gesellschaft das Umweltbewusstsein der Konsumierenden so hoch. Das findet seine Bestätigung in der Tatsache, dass manche Ernährungs- sowie Lebensweise heute nicht mehr als exzentrisch und komisch herabgeblickt wird, sondern direkt Marktwünsche bestimmen. 

Schweizer Franken
Was kosten uns diese Fasern tatsächlich?

Die Erfindung des Jahrhunderts oder eine Schimäre?  

Solche plastikbasierten Kleidungstücke sollen umweltfreundlich sein, ein cooles Design und sogar einen tiefen Preis haben. Welcher ist aber der tatsächliche Preis, welchen wir zahlen, wenn wir ein solches Kleidungsstück kaufen? 

Der ganze Enthusiasmus, bezaubernder Muster und kommerziellem Hype zum Trotz endet die Magie sobald ein solches Plastikgeladenes Kleidungsstück in einer Waschmaschine landet, denn genau das Rezept seines Erfolges, sprich die eigene Formbarkeit des Plastiks, was sie zu einer eierliegenden Wollmilchsau macht, wird auch Wortwörtlich zu dessen Tode.

Die mikroskopischen Plastikfasern des Gewebes lösen sich während dem Waschen in Fasern auf. Diese werden im Laufe der Zeit zu immer kleineren Teilchen bis sie sich zu sogenannten Mikroplastikteilchen – Kunststoffteile unter 5mm gross – zerteilen.  

Trotz der mikroskopischen Dimension, in der das Phänomen stattfindet, sind die Zahlen jedoch alles anderes als winzig. Laut einer Studie der Universität Santa Barbara setze z.B. eine Stadt von der Grösse Berlins eine waschbare Menge an Mikrofasern frei, die etwa 500.000 Plastiktüten entspricht – und das jeden einzelnen Tag. 

Was bei dem Phänomen umso mehr erstaunt, ist wie heimtückisch diese Fragmente sind. Um diesen gefährlichen Kreis zu verstehen, begleiten wir einen Fasernball durch seine Reise nach der Spülung. Nachdem unsere Waschmaschine und Wohnung verlassen hat, gelingt der Ball in die Kläranlagen. Da sie nicht in der Lage sind, solche winzigen Partikel herauszufiltern, gelangt er zuerst in die Gewässer und von dort breitet er sich immer weiter aus. Alle Wasser laufen ins Meer, wo das Fasernaggregat aufgrund seines Gewichts immer tiefer sinkt, bis es zum Meeresboden gelangt. Im Laufe der Zeit zersetzen sich die Fasern in unsichtbare Partikeln, die von Meeresorganismen wie Flohkrebse oder Plankton aufgenommen, welche später zur Mahlzeit immer grösserer Lebewesen werden. Somit steigen die Plastikteilchen Tier nach Tier, die Nahrungskette langsam wieder hinauf, und befinden sich am Ende ihrer Reise in den Regalen eines anderen Ladens: Unserer Supermärkte, und zwar in der Fischabteilung.  

Die Folgen davon? Die Wissenschaft streitet sich zurzeit noch darüber.  Die ersten Einsichten sind, im Gegenteil zu den farbigen Mänteln, jedoch alles andere als rosig.  

«Beispielsweise wurde bei Muscheln beobachtet, dass die Mikroplastik in die Zellen gelangte und dort Entzündungsreaktionen auslöste. Wissenschaftler*innen befürchten, dass die mikroskopischen Partikel auch in menschliche Körperzellen eindringen und dort Entzündungen verursachen können. Inhalierte Mikroplastiken können möglicherweise das Lungengewebe schädigen oder die Partikel können sich in den Lymphknoten des Darms ansammeln. Darüber hinaus belegen Labortests, dass Mikroplastik bei Tieren das Wachstum und die Fortpflanzung beeinträchtigen kann. Das Umweltbundesamt befürchtet auch Verletzungen des Magen-Darm-Trakts, und die Partikel im Magen-Darm-Trakt könnten sich ebenfalls ablagern, die Verdauung behindern und die Nahrungsaufnahme blockieren.», so Gesundeseuropa. 

Dieses verfängliche Problem ist in der Zwischenzeit auch von der EU erkannt worden, doch im Gegensatz zu bereits existierenden Gesetzen, die es den Herstellern verbieten, Reinigungsprodukten Kunststoffmikroperlen beizufügen – einer der Quellen von Mikroplastiken in Kosmetika- gibt es noch keine Gesetzeslage zur Begrenzung der Verschmutzung durch Mikrofasern. Die Kleidungshersteller*innen sollten es vorziehen, selbst Massnahmen zur Verringerung dieses Faserverlustes zu ergreifen, anstatt sich bald ins Fadenkreuz der Aufsichtsbehörden zu geraten.

Erklär-Grafik Mikroplastik im Meer
Bildquelle: https://wir-fuer-recyclat.de/en/mikroplastik-grosse-probleme/

Old but gold 

Das Debakel ist aktueller denn je und manche Länder sind schon dabei, Lösungen dazu zu finden, wie z.B. Frankreich, das ein Gesetzt entworfen hat, welches vorsieht, dass ab 2025 jede neue Waschmaschine mit einem Filter ausgestattet werden muss, der Mikrofasern aus Kunststoff, die sich beim Waschen auflösen, auffängt. Genau der enorme Spielraum, den Plastik anbietet, seine Fähigkeit, sich zu beliebigen Formen dehnen zu lassen, wird auch zum grössten Problem.  Wir sollten uns überlegen, inwiefern wir die Zukunft unseres Planeten beeinflussen möchten, da manchmal sogar eine gut gemeinte Aktion wie das Recyceln von alten Flaschen eine mikroskopische, klitzekleine Konsequenz mit sich bringt, die aber katastrophale Konsequenz nach sich zieht. 

Doch was können wir als Konsumierende in der Zwischenzeit machen? 

Diejenigen, welche nicht auf Fleece verziehen möchten oder ihre ganze Garderobe wegwerfen wollen, bietet Firmen wie Guppyfriend oder Zerowaste eine Lösung an: Eine Waschtüte, die als Filter dient und Mikroplastiken auffängt, bevor sie in die Kanalisation gelangen. Eine andere Lösung bietet einer der ältesten Fasern der Welt: Die Wolle.

Ansonsten, für diejenigen, welche sich gerne in Secondhandgeschäften aufhalten und das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden möchten, könnte der Kauf einen der aberhunderten Pelzmäntel, die jedes Jahr weggeworfen werden, eine gute Investition sein. Niemand kann die Grausamkeit, die Geldgier oder das Leiden der Tiere, die in diesen Pelzmänteln stecken, rechtfertigen. Doch genau aus Respekt für diese harmlosen Opfer der Mode und damit ihr Tod nicht umsonst war ist das Mindeste, was wir machen können, sicherzustellen, dass diese Kleidungsstücke so viele Generationen wie möglich zu sehen bekommen und uns dabei zu versprechen, dass sich eine solche Tragödie nie mehr wiederholen wird.

Ismaele Franzetti 
Autor 

Zwischen Fremdsprachen und Büchern fühle ich mich manchmal wie von Magie umgeben. Spannende Texte zu lesen ist für mich immer wie im Sommer einen Sternenhimmel anzuschauen: Man wird von unendlichen kleinen Pünktchen erhellt und ist nie alleine. Für ZAKK schreibe ich, um Ideen, Gedanken und Überlegungen mit anderen Studierenden zu teilen und zur Diskussion anzuregen.