Nach Kim de l’Horizons Weltsicht sind wir alle Teil eines grossen Netzes – da ist es nur passend, dass im Stück immer wieder die vierte Wand gebrochen wird.
 (Foto: Diana Pfammatte, Schauspielhaus Zürich)

«Blutstück»: Eine radikale Bühnenadaption

28.05.2024, Autorin: Laura Marta

«Eigentlich bin ich voll genervt von dem Buch. Aber jetzt ist etwas ganz anderes entstanden, ein fast unabhängiges Stück.», sagt Autorperson Kim de l’Horizon in einem Interview mit dem Tagesanzeiger. Wer sich also für das «Blutstück» entscheidet und eine vorlagengetreue Adaption des 2022 erschienenen Romans «Blutbuch» erwartet, wird überrascht werden. «Wir benutzten den Text eher als Material, um neue Formen von Gemeinschaft zu entdecken und der Prozess ist echt», erklärt Kim auf der Bühne.

Geschlechter, Queerness, Traumata und Klassenzugehörigkeiten

Das «Blutbuch», das seinen Titel der Blutbuche aus dem Familiengarten zu verdanken hat, ist eine Streitschrift gegen die Schweigekultur und eine poetische Selbstsuche zugleich. In dem Werk geht es um eine Erzählfigur, die sich weder als Mann noch als Frau identifiziert – ganz wie Kim selbst also. Von einem Schweizer Vorort in die Grossstadt Zürich gezogen, fühlt sie sich frei. Doch nachdem die Grossmutter – im Buch liebevoll Grossmeer genannt, also wie das mére im Französischen – an Demenz erkrankt, beginnt die Hauptfigur sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sowohl mit ihrer eigenen als auch mit der ihrer Familie. Das schreibende Ich verfolgt die Familiengeschichte mütterlicherseits bis ins 14. Jahrhundert zurück. «Da ging es um transgenerationale Traumata. Um Sachen, die wir mitbekommen, ohne dass wir entscheiden können, ob wir sie wollen oder nicht», erklärt Kim de l’Horizon in einem Interview mit NDR Kultur. Dass das Debüt sowohl mit dem Deutschen und dem Schweizer Buchpreis als auch mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung ausgezeichnet wurde, bezeugt, wie wichtig Kims Stimme ist.

«Dieser Körper war mal eine gute Idee, aber jetzt Storno – wir wollen zurück in die Ursuppe»

Das Spiel mit der Sprache, welches in Kims autofiktionalem Werk angefangen wurde, wird im Stück gekonnt weitergesponnen. «…Mensch schwimmt ein Leben lang, um aus den Meeren herauszukommen», ist ein Zitat, das aufzeigt, wie gekonnt Wortbedeutungen übereinandergelegt werden können. Das Meer ist ein grosser Wasserkörper, während eine Meer (mère) für die Mutter steht – oder die Grossmutter, die im «Blutstück» eine zentrale Rolle spielt.

Nach Hannover, Magdeburg und Bern kommt die Bühnenadaption nun auch in den Zürcher Pfauen. Was diese Inszenierung der Hausregisseurin Leonie Böhm – bisher besonders für ihre radikale Bearbeitung von Klassikern kanonischer Grössen wie Schiller, Horváth oder Euripides bekannt – von den bisherigen unterscheidet? Kim de l’Horizon ist diesmal selbst mit von der Partie! Das Hirn hinter der ganzen Geschichte begrüsst das Publikum im Schauspielhaus Zürich in einem glitzernden grünen Rock, mit einer elektrischen Kerze in der Hand und gedämpft Robin Williams Hit «Feel» aus dem Jahr 2002 darbietend. Doch bevor das Bühnenstück anfangen kann, hat Kim sich einiges von der Seele zu reden und hält einen berührenden Vortrag zum Genderverbot in Bayern.

Wie bereits zu Beginn angeschnitten, handelt es sich beim «Blutstück» nicht um eine inhaltliche Adaption des preisgekrönten Debüts ins Bühnenformat, sondern vielmehr um einen gelungenen Versuch im Theater das zu schaffen, worin das Buch laut Kim gescheitert ist: einen Raum, der die Grenzen der Geschlechteridentitäten, gesellschaftlicher Klasse und kultureller Herkunft hinter sich lässt. Thematisch steht «das Erbe der Scham» im Mittelpunkt – oder «die Scheisse in unseren Adern», wie es im Stück immer wieder genannt wird. Durch diese unterhaltsame, emotionale und tabubrechende Reise werden wir von den Grossmeers begleitet – charmant gespielt von Gro Swantje Kohlhof, Lukas Vögler, Sasha Melroch und Kim de l‘Horizon selbst.

Von links nach rechts: Gro Swantje Kohlhof, Kim de l’Horizon, Sasha Melroch und Lukas Vögler im «Blutstück»
(Foto: Laura Marta)

Aussagen wie, dass der eigene Körper nicht aus 60 % Wasser, sondern aus 60 % Angst bestehe und «es überall verteilt auch Einsamkeit, Zerrissenheit, Scham, Schmerz gebe», klingen niemals aufgesetzt oder kitschig, sondern geben einem das Bedürfnis, die schauspielende Person zu umarmen. Dies zeigt auf, wie authentisch das Stück ist. Die Tatsache, dass immer wieder improvisiert wird – wie man an den englischen Übertiteln sehen kann, die dann aussetzen – hilft dabei nur.

Der Moment, der mich und die Menschen in meinem Blickfeld sprachlos machte, und zum einen oder anderen Tränchen führte, kam ganz unerwartet, entwaffnend und gegen den Schluss der Vorstellung: Kim steht wie so oft in den letzten 1.5 Stunden mitten im Raum, fokussiert sich auf eine einzelne Person im Publikum und spricht mit ihr. Doch anstatt wie zuvor um Erlaubnis zu bitten, die Schuhe der Person näher betrachten oder an ihr Kinn greifen zu dürfen, fragt de l’Horizon den verdutzten, väterlichen Mann in der fünften Reihe, ob er eingegriffen hätte, falls jemand der anderen Anwesenden Kim angegriffen hätte – «willst du mein Verbündeter sein?» – woraufhin der Zuschauer mit «ja» antwortet.

Berührend wird dem Publikum von der Angst erzählt, die jedes Mal beim Verlassen des Hauses eine treue Begleiterin Kims ist. So auch diesmal: man wisse nie, wer alles im Publikum sitze und ob ein:e Zuschauer:in vielleicht auch Böses im Sinn habe. In dem Moment wurde wohl allen klar, dass die liebe- und respektvolle Welt, in der das Gemeinschaftsgefühl förmlich zu spüren war, die im Schauspielhaus Zürich an diesem Abend aufgebaut wurde, noch lange nicht die gesamtgesellschaftliche Realität darstellt. Nachdem die Grossmeers das Publikum mit einer Performance der Christine and the Queens Single «Tears can be soft» verabschiedet haben, lässt eine minutenlange Standing Ovation für alle Künstler:innen diesen unvergesslichen und intimen Abend ausklingen. Wir gingen mit dem Wissen in das abendliche Zürich hinaus, dass es noch viel zu tun gibt, bis die heutige Message in der Mitte der Gesellschaft ankommt. Non-binäre Körper sichtbarer zu machen ist ein guter Schritt in diese Richtung.